FOTOBUCH ANNÄHERUNGEN

Wahre Intimität ist eine der schönsten Erfahrungen des Menschseins. Kein Schein, keine Bewertung, keine Schuld, keine Scham. Nur das erhebende Gefühl, angenommen zu werden so einzigartig und einzigartig fehlerhaft, wie man eben ist. Intimität erlebt der Mensch nicht allein. Er braucht eine Gegenüber, dem er so sehr vertraut, dass sein pures Sein es wert scheint, gesehen zu werden. Und wenn es der eigene Körper ist.

Ein solche Nähe erfordert Mut und Demut. Urvertrauen. Wir machen uns verletzlich, wenn wir uns nah sind, wir Menschen. Entblößen unsere Schwächen, unsere Schuldgefühle und unsere Unsicherheiten. Wir zeigen Körper und Geist. Doch wir entblößen simultan auch die Unzulänglichkeiten der Gesellschaft, in der wir leben. Ihre willkürlichen Forderungen, Spielregeln und Fehler.

Der Zeitgeist sortiert Menschen genauso aus, wie der Supermarkt um die Ecke die krummen Möhren und zu kleinen Tomaten. Das große Ganze, das Leben an sich wird reduziert auf Feinheiten. Auf Ausschnitte, die unmöglich taugen, den Wert von etwas viel Ganzheitlicherem festzulegen. Die Perspektive ist ungeeignet, um zu entscheiden, was würdig ist und was Würde hat.

Der Natur war so etwas schon immer egal. Sie bringt Strukturen der unterschiedlichsten Farben und Formen hervor, die allesamt in der Lage sind, ihren Platz zu finden und zu leben. Gleichwertig faszinierend, gleichwertig einzigartig, gleichwertig würdig. Dass der Mensch in der Lage war, sich zu erheben über sich selbst und seinen Ursprung ist gleichermaßen beeindruckend und bedrückend. Die Fähigkeit zur neugierigen Kreativität, zum Schöpfen und Lenken hat den Menschen dazu verführt, sich selbst über, oder im besten Falle neben die Natur zu stellen. Die Verbindung ist beinahe gekappt.

Der Zeitgeist ist keine unumstößliche Konstante der Natur, keine kosmische Regel. Er ist eine Schöpfung der Menschheit, die sich damit noch weiter entfremdet von ihrem Ursprung. Sie stellt Regeln für etwas auf, was sie nicht zu regeln in der Lage ist und lediglich der Zufall entscheidet, wer passt und wer eben nicht. Die Nähe, die Intimität, die der Mensch so dringend sucht und braucht, um sich richtig zu fühlen, ist innerhalb dieses Konstruktes nur noch schwer zu finden.

Als ich mich auf die Suche nach Modellen für dieses Fotoprojekt machte, war mir die Dimension der Entfremdung zwischen Mensch und Natur, zwischen Mensch und Mensch und auch zwischen Menschen und ihren Körpern bei weitem noch nicht klar. Ich wollte Nähe suchen und Nähe sichtbar machen und wählte dafür den menschlichen Körper, das dieser im Zentrum der skurrilsten Spielregeln unserer Zeit steht. Ich suchte explizit nach Menschen, die an ihrem Körper etwas als fehlerhaft definieren, als „anders“, ganz egal, ob sie damit gut leben oder nicht. Das pure Bewusstsein des „Andersartigkeit“ war ausreichend. Das Ergebnis war aufschlussreich. Alle Geschlechter, alle Altersgruppen, alle Einbindungen waren vertreten. Ich habe schon oft Aufrufe für Fotoarbeiten gestartet und noch nie bekam ich so viele Zuschriften, wie für dieses Projekt. Für mich war das ein Zeichen, dass ich nicht allein bin mit der Sehnsucht nach Nähe und nach der Wiedereinbindung in den großen Kontext der Natur.

Nun bin ich bei weitem nicht die erste, die Körper abbildet und sich mit den gesellschaftlichen Normen für richtig und falsch beschäftigt. Doch ich wollte es selbst erleben, wie sich Nähe zu dem Teil eines Menschen anfühlt, den er selbst für fehlerhaft hält. Ich wollte die Perspektive selbst wählen und ich wollte den Ausschnitt ad absurdum führen. Ich wollte so nah an die „Fehler“ heran, wie nur möglich. Ich wollte die Schönheit und Einzigartigkeit dieser kleinen menschlichen Details sichtbar machen. Sie aus dem Kontext reißen, um sie wieder in den Kontext einfügen zu können. Ich wollte meinen aufrichtigen Blick mit den Menschen teilen, die sich so freimütig vor meine Kamera begeben haben und ich wollte ein Stück Nähe zurückgeben. Und um den Betrachter*innen der so entstandenen Arbeiten die Möglichkeit zu geben, die inneren Mechanismen der Bewertung zu umgehen, wollte ich die Bilder so weit verfremden, dass sie in der Lage sein können, die Natur zu sehen und nicht mehr länger den Körper. Die Besonderheit und nicht den Fehler. Das Leben an sich und nicht den Zeitgeist.

Entstanden sind surreale Welten die schwanken zwischen abstrakten Landschaftsaufnahmen, organischen Strukturen und beinahe malerischen Blicken durch Mikroskope. Es sind Bilder, die intimer nicht sein könnten und die sich wieder dem annähern, was wir eigentlich sind. Ein würdiger, einzigartiger Teil des Ganzen.

Fotos / Layout
Luise Frentzel